Samstag, 12. Mai 2018

Michels Geburt


Am 20. April 2007, früh morgens, fuhren wir in die Uniklinik nach Gießen, um unser Kind zur Welt zu bringen. Es war ein Freitag. Wir sollten gleich morgens drankommen, aber als wir ankamen, war gerade ein Notfall im Geburts-OP. Ein Kind war in der 25. Woche zur Welt gekommen und es dauerte ein paar Stunden, bis Kind und Mutter versorgt und in Sicherheit gebracht waren. 
 
Ich wurde derweil in Vorbereitung auf die OP gewässert. Stundenlang, den ganzen Vormittag. Das heißt, mir wurde per Infusion (Salz-?)Wasser injiziert, ich weiß nicht mehr, warum, sie hatten es mir erklärt, damit ich die OP besser überstünde. Mir war kalt deswegen. Ab und zu sah eine Hebamme nach mir. Eine Hebammen-Schülerin rasierte mir irgendwann die Schamhaare weg und später kam der Anästhesist und stellte sich vor. Das war ein lustiger Kerl und er erzählte mir, dass er selbst vor vier Monaten Vater geworden war. „Vier Monate!“ dachte ich, „das Kind ist ja schon groß.“

Wir warteten. 

Dann ging es los. Mittags gegen halb eins. Der Anästhesist hatte mir eine Kanüle gelegt. Es kam noch eine Anästhesistin hinzu, die sich mir auch vorstellte. Sie machte einen ganz toughen Eindruck, aber sie streichelte mir über‘s Gesicht, als ich in den OP-Raum gefahren wurde. 

Dann kamen viele Menschen, Schwestern, Hebammen und Schülerinnen, Lern-Ärzte, die zusahen oder auch selbst was an mir ausprobieren durften und dann der Arzt, der mich operierte, der Michel auf die Welt holen sollte. Alle trugen grüne Käppchen, auch ich und D. hatten welche auf. Der Oberarzt, der die OP machte, trug ein Piratenkopftuch! Und er sah auch aus wie ein Pirat! Er war ein junger, dunkler, lockerer Typ, gleichzeitig wirkte er auf mich kompetent und vertrauenerweckend. Ich selbst konnte überhaupt nichts mehr machen. Ich wurde rüber gehoben auf den OP-Tisch und ich glaube, sogar festgeschnallt. Der Anästhesist und die Anästhesistin redeten mit mir, spaßten und redeten auch Ernsthaftes. Ich erzählte ihnen von dem Spaziergang damals mit meinem Hund Schröder, als mir so schlecht war, und von dem meerestiefen Frieden, den ich empfunden hatte. 

Ich spürte, dass an mir geschnitten, gezogen und gedrückt wurde, ohne Schmerz zu empfinden. Ich hatte vollstes Vertrauen, zu allem und allen um mich herum. Ich war mir gewiss, in allerbesten Händen zu sein. Ich hatte das Gefühl, dass lauter menschliche Engel um mich herum waren. Und unsichtbare Engel waren auch im Raum. 

D. sagte mir später, er habe während der OP unten beim Operateur gestanden. Der hat ihm meine Innereien gezeigt, Eierstöcke, die Myome und so. Und ich dachte, er säße die ganze Zeit neben mir. 

Dann war Michel draußen. Er schrie. Der Pirat sagte, dass es auch „ein Michel“ sei, ein Junge. Sie hielten ihn kurz neben mich, dass ich ihn sehen konnte: Ein kleiner, blutverschmierter Mensch mit schwarzen Härchen am ganzen Körper. Aber schwupps – war er weg, zur ersten Versorgung. Ich hörte ihn die ganze Zeit schreien. Das tat mir leid. Der Pirat sagte, dass er nun meine Gebärmutter wieder gut zunähen würde, damit Michel noch ein Geschwisterchen bekommen kann. Mir wurde schlecht. Das sagte ich dem Anästhesisten und der träufelte mir etwas dagegen ein. 

Dann erschien D. mit dem eingewickelten Michel auf dem Arm neben mir.  Irgendwie sah D. mitgenommen aus. Als ich fertig zugenäht war, wurde ich wieder in das Zimmer gefahren, in dem wir den ganzen Vormittag über gewartet hatten. Michel wurde mir wieder in den Arm gelegt. Mir war so schlecht, dass ich Angst hatte, ich müsste brechen. 

Dann erschien ein Arzt in rotem Kittel. Der saß plötzlich am Fenster und erzählte was von Verdacht auf Down-Syndrom und dass ein Bluttest veranlasst sei, um Gewissheit zu erlangen. Ich dachte: „Was redet der? - Mein Kind?“

 
 
Michel wurde in die Kinderklinik gebracht, weil irgendein Wert nicht gesättigt war. Ich war nicht ganz bei mir, ein bisschen im Tran. D. fuhr irgendwann nachhause, nachdem die Hebamme ein Polaroidbild von Michel gemacht hatte, für die daheim. Da sah er doch ganz süß drauf aus! „Der wird das nicht haben“, dachte ich, „die irren sich.“ 

Dann begann die Narkose nachzulassen und die Schmerzen begannen. Ich bekam Schmerzmittel, die lullten mich noch mehr ein und ich döste vor mich hin, zwischen den Welten.



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